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Diagonale ’14 – Vom Spritzen, Pendeln und Bandagieren

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Wenn es blendet, öffne die Augen (Regie: Ivette Löcker, AT 2014)

Einer dieser unzähligen sowjetischen Betonwohnblöcke irgendwo in St. Petersburg: Hier lebt der 37-jährige Ljoscha gemeinsam mit seiner Freundin Schanna und seiner Mutter – eingepfercht in einem kleinen Appartement, in dem es meistens nach Zigarettenrauch stinkt, wie sich Ljoschas Mutter des Öfteren beklagt. Ivette Löcker beginnt ihren Film mit einem fast formellen Voice-Over ihrer Protagonisten, dem visuell eine Totale des Sowjetblocks und seiner Wohnungen gegenübergestellt wird, fast so, als möchte sie damit sagen, dass auch hier noch mehr (unentdeckte) Schannas und Ljoschas hausen könnten. Als Anfang der 90er die Sowjetunion aufgelöst wurde und Ljoscha und Schanna in der Blüte ihrer Pubertät standen, schwappte mit dem neu gewonnen Freiheitsgedanken auch eine Welle der Drogen ins Land – vor allem Heroin wurde zum neuen Stoff der Träume. Schanna und Ljoscha sind die „Überlebenden“ dieser Post-Perestroika-Generation, doch müssen heute den Preis für ihren damaligen Lebensstil bezahlen: Beide sind mit HIV infiziert, methadonabhängig und müssen tagtäglich gemeinsam mit Ljoschas Mutter dafür kämpfen, den nächsten Tag auch finanziell aushalten zu können. Ivette Löcker geht es jedoch nicht um Empathie für ein gesellschaftlich brisantes Junkie-Schicksal, sondern um die Menschen hinter der Drogensucht: Trotz den offensichtlichen Folgen ihres Drogenkonsums, den die beiden Protagonisten offen und direkt adressieren, haben sich Schanna und Ljoscha ihre Lebenslust beibehalten. Neckisch betrachten sie alte Familienfotos, genießen ihr gemeinsames Stück Geburtstagstorte oder schenken sich ein Lächeln, auch wenn es nicht immer leicht fällt, da der Film den Fokus auf Phasen der Abhängigkeit und „Selbstzerstörung“ genauso schwer gewichtet wie den auf denen des Glücks. Auch wenn das Ende viel zu weichgezeichnet und überstilisiert daher kommt, gelingt Löcker insgesamt ein bewegendes und intimes Charakterporträt, das den Protagonisten zwar nah kommt, aber nie seine politische Dimension außer Acht lässt: Dynamische Live-Auftritte einer russischen Punk-Rock-Band liefern das melancholische Echo aus der Vergangenheit, in der die Zukunft die Ungewisseste aller Komponenten spielt.

© Diagonale

Die Schlangengrube und das Pendel (Regie: Harald Reinl, Deutschland 1967)

Der zweite Beitrag der diesjährigen Austrian-Pulp-Reihe wäre ja eigentlich ein Mitternachts-Leckerbissen vor dem Herrn, wäre nicht diese elendige Digibeta-Vorführversion, die beim Screening auf der Diagonale statt einer wohl unspielbaren 35mm-Kopie eingesetzt werden musste und eher an schlechte VCD-Zeiten erinnerte als an nostalgisches Kinofeeling – grausamer als Pixelbrei in wunderbaren Außenkulissen geht fast nicht. Nichtsdestotrotz liefert Mr. „Winnetou“ Harald Reinl, nach seiner Post-Leni-Riefenstahl-Regieassistenz und seinem Heimatfilm-Output in den 1950ern, hier nichts weniger als den ersten deutschsprachigen Nachkriegshorrorfilm – und das im Jahr 1967(!). Kein Wunder also das der Film ein ziemlicher Flop wurde, denn der großeuropäische Horrorboom war nicht nur am Abflauen, sondern gegenüber Reinls viel zu niedlicher Horror-Mär auch mindestens drei Evolutionsstufen weiter. Nichtsdestotrotz spielt hier Lex Barker (Old Schatterhand in den Winnetou-Verfilmungen) gemeinsam mit Reinls Gattin Karin Dor einen Adeligen, der auf ein mysteriöses Horrorschloss eingeladen wird – angeblich von Graf Regula (Christopher Lee!!!), der doch vor 35 Jahren brutal gevierteilt wurde. Doch natürlich hofft der auf das Blut der 13. Jungfrau, die ihm ewiges Leben bescheren soll… Lose basierend auf Edgar Allan Poes Kurzgeschichte The pit and the pendulum ist Die Schlangengrube und das Pendel ein in Zuckerguß getränktes Horror-Märchen mit tollen Kulissen, unfreiwilliger Komik und einer überzeugenden Camp/Trash-Ratio, die den doch recht spannungsarmen Film immer wieder vor der Belanglosigkeit rettet.

© Diagonale

Wekstattgespräch: Ich seh / Ich seh (Regie: Veronika Franz/Severin Fiala, AT 2014)

Eine Stimme für den Zwieback! Wer sich am Samstagnachmittag für das Work-in-Progress und Werkstattgespräch von Ich seh/ Ich seh entschieden hatte, dem neuen Film von Severin Fiala und Veronika Franz, wird zumindest die Zwieback kauende und bandagierte Susanne Wuest nicht mehr so schnell aus den Kopf bekommen – wohl allerdings auch nicht den Rest des feinen Film- und Diskussionsprogramms. Mit Ich seh/ Ich seh bewegen sich Fiala und Franz nach ihrer überzeugenden Peter-Kern-Dokumentation nun ins Genre des Psychothrillers (oder zumindest so ähnlich). Behutsam wurde mit den Infos zum Plot umgegangen, nur so viel steht fest: Ein junges Zwillingsbruderpaar muss in einem vereinsamten Haus irgendwo im Waldviertel mitansehen, wie ihre nach einer Gesichts-OP zurückgekehrte Mutter seltsam verändert wirkt. Nicht nur das Setting, auch der visuelle Stil erinnerten mich unmerklich an den hervorragenden Almodovar The Skin I Live In, was wohl auch der fies-gruseligen Gesichtsummantelung von Susanne Wuest geschuldet ist. Auch die beiden jungen Hauptdarsteller, die in einem umfangreichen Casting-Prozess gefunden wurden, der einen der vielen spannenden Programmpunkte des Werkstattgesprächs bildete, könnten mit ihrer leicht androgynen Art und geheimnisvollen Tiefe aus der Filmwelt des spanischen Arthouse-Gurus stammen. Generell macht Ich seh / Ich seh nicht nur aufgrund seiner eindrucksvollen audiovisuellen Qualität einen hervorragenden Eindruck, sondern weil es Fiala und Franz vielleicht wirklich einmal schaffen, über Genretropen hinweg eine starke Bindung zu Figuren und ihrer diegetischen Welt zu entwickeln – das Spielen im Kornfeld und im Hagelschauer machten jedenfalls viel Lust auf mehr.
Generell überzeugten nicht nur die knapp 20 Minuten an Filmmaterial, die man zu sehen bekam, sondern das schöne Konzept Werkstattgespräch: Neben Drehbuchlesung, humorvollen Requisiten-Anekdötchen und Interview-Passagen kam weder der Humor zu kurz noch die Beteiligung des Publikums, das nach den extrem kurzweiligen 90 Minuten sichtlich involviert erschien. Mit einem potentiellen Kinostart ist wohl Ende des Jahres zu rechnen. Wir sind wohl nicht die Einzigen, die sich darauf freuen.

David Rams


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